„Auf der Suche nach dem Geheimnis der Lebenszufriedenheit haben Psychologen zwei besonders wichtige Eigenschaften identifiziert: Intelligenz und Selbstdisziplin.“ (S. 8 ) Während man mit dem Quantum Intelligenz zurechtkommen müsse, das man mitbekommen hat, lasse sich die Selbstdisziplin trainieren, so eine der wichtigsten Thesen dieses Buches.
Als Psychologen die Noten von Studenten mit rund drei Dutzend Persönlichkeitseigenschaften verglichen, stellten sie fest, dass Selbstdisziplin die einzige (!) Eigenschaft war, die in direktem Zusammenhang mit den Noten stand. Selbst der Intelligenzquotient gab weniger Aufschluss über die späteren Leistungen an der Universität. (S. 19)
Wie viel Selbstdisziplin bewirkt, zeigt das Beispiel des englischen Romanautors Anthony Trollope, der einer der bekanntesten Vielschreiber des 19. Jahrhunderts wurde, obwohl er gleichzeitig als Postinspektor arbeitete. Er zwang sich, 250 Wörter pro Viertelstunde zu schreiben. Für jeden seiner Romane stellte er einen Arbeitsplan auf. Er kalkulierte pro Woche etwa 10.000 Wörter und führte genauestens Buch, indem er jeden Tag notierte, wie viel er geschrieben hatte. Während seiner gesamten schriftstellerischen Laufbahn lief er nicht ein einziges Mal Gefahr, einen Abgabetermin nicht einzuhalten. „Ich habe mich nie für ein Genie gehalten“, so Trollope, „aber selbst wenn, dann hätte ich mich dieser Disziplin unterworfen. Nichts ist so mächtig wie ein Gesetz, das man nicht brechen darf. Es hat die Kraft des steten Tropfens, der den Stein aushöhlt. Eine kleine Aufgabe, die täglich ausgeführt wird, bewirkt mehr als einmalige Heldentaten des Herkules.“ (S. 135)
Die Autoren zeigen auch, dass Kulturen, die ihre Kinder zu mehr Selbstdisziplin erziehen, oft erfolgreicher sind. In den USA zum Beispiel machen Asiaten nur vier Prozent der Gesamtbevölkerung aus, aber sie stellen ein Viertel aller Studenten an den Eliteuniversitäten. Dabei haben sie, wie Messungen zeigen, im Durchschnitt keinen höheren IQ als andere Amerikaner, jedoch durchaus eine viel höhere Selbstdisziplin. (S. 226 f.)
Obwohl Selbstdisziplin so entscheidend für den Erfolg im Leben ist, fällt es vielen Menschen schwer, sich selbst zu gehorchen. Fragt man Menschen nach ihren persönlichen Stärken, dann werden oft Ehrlichkeit, Güte, Humor, Kreativität oder Mut genannt, Selbstdisziplin dagegen sehr selten. Bei einer Befragung von mehr als zwei Millionen Menschen in aller Welt landete die Selbstdisziplin auf der letzten Stelle. Von den zwei Dutzend im Fragebogen aufgelisteten „Charakterstärken“ wurde sie am seltensten genannt. Dafür stand bei den Schwächen mangelnde Selbstdisziplin ganz oben. (S. 8 )
Wer einfach anwendbare Ratschläge und Tipps erwartet, wie man sie in Selbsthilfebüchern oft findet, wird von diesem Buch vielleicht ein wenig enttäuscht sein. Es ist ein wissenschaftliches Buch, das vor allem ausführlich die Ergebnisse unzähliger psychologischer Experimente zusammenfasst, die im Zusammenhang mit Selbstdisziplin stehen. Doch obwohl einfache Tipps darin eher rar gesät sind, ist es ein sehr wertvolles Buch, weil es zum Nachdenken und zur Selbstreflexion einlädt.
Einige Erkenntnisse, die ich mir aufgeschrieben habe: Die Willenskraft, das zeigen zahlreiche Experimente, funktioniert wie ein Muskel. Bei Benutzung ermüdet er kurzfristig. Wer beispielsweise in kurzer Zeit viele Entscheidungen fällen muss, dem fällt das nach einer Stunde schwerer als zu Beginn. Der Vergleich mit dem Muskel ist vor allem deshalb gut, weil auch ein Muskel bei Benutzung kurzfristig geschwächt, bei intensiver Benutzung jedoch gestärkt wird. Genau dies sei auch bei der Selbstdisziplin möglich, so die Autoren.
Zur kurzfristigen Ermüdung der Willenskraft stellen die Autoren wissenschaftliche Untersuchungen vor, die erschreckend sind: Untersucht wurden Entscheidungen von Richtern über die Anträge von Häftlingen auf vorzeitige Haftentlassung. Durchschnittlich gewährten die Richter jedem dritten Häftling eine Haftentlassung. In den Verhandlungen am frühen Vormittag, wenn der Entscheidungsmuskel noch nicht ermüdet war, wurden jedoch 70 Prozent der Häftlinge begnadigt, in Verhandlungen am späten Nachmittag, wenn der Entscheidungsmuskel schon geschwächt war, dagegen nur noch 10 Prozent! (S. 114) „Da bei Entscheidungen unsere Willenskraft gefordert ist, suchen wir bei Erschöpfung Möglichkeiten, Entscheidungen aufzuschieben oder ganz zu vermeiden“, so die Autoren. Bei den Richtern war es offenbar so, dass sie sich mit einer Entscheidung gegen eine vorzeitige Haftentlassung leichter taten, weil damit ja die Option offen blieb, später einmal eine andere Entscheidung zu fällen.
Im zweiten Kapitel stellen die Autoren dar, wie wichtig Glukose aus biochemischer Sicht ist, damit das Gehirn – und damit auch die Willenskraft – funktioniert. Vereinfacht gesagt: „Wo keine Glukose ist, da ist auch kein Wille.“ (S. 61) Das heißt nicht, dass man viel Zucker zu sich nehmen soll, denn dadurch steigt der Blutzuckerspiegel nur rasch an, um danach umso schneller wieder abzufallen. Das hat also nur einen kurzfristigen positiven Effekt. Vielleicht erklärt der Glukosemangel, warum die Richter, die über eine vorzeitige Haftentlassung zu entscheiden hatten, unmittelbar vor dem Mittagessen nur in 10 Prozent der Fälle zugunsten des Antragstellers entschieden, wogegen dies unmittelbar nach dem Mittagessen in 60 Prozent der Fälle geschah.
Während die Selbstdisziplin also, wie der Muskel, kurzfristig durch Gebrauch geschwächt wird, wird sie langfristig gestärkt, wie zahlreiche Experimente belegen. „Ohne es zu bemerken, erzielten die Teilnehmer (von Experimenten zur Stärkung der Willenskraft – R.Z.) Verbesserungen in Lebensbereichen, die gar nichts mit den Übungen zu tun hatten. Die Laborversuche lieferten die Erklärung für dieses Phänomen: Ihre Willenskraft wurde allmählich stärker und vor allem ausdauernder. Wer in einem Bereich seine Selbstbeherrschung trainierte, konnte sie auch in anderen verbessern.“ (S. 159)
Eine der Folgerungen, die die Autoren aus den wissenschaftlichen Experimenten ziehen: „Wenn Sie sich mehr als eine Sache vornehmen, die Sie besser machen wollen, dann gelingt Ihnen das vielleicht eine Weile lang, weil Sie auf Kraftreserven zurückgreifen, aber damit erschöpfen Sie sich und machen später größere Fehler. Wenn wir große Veränderungen in unserem Leben vornehmen, sabotieren wir uns oft, indem wir gleichzeitig auch noch weitere Veränderungen vornehmen wollen. Wenn Sie zum Beispiel mit dem Rauchen aufhören und gleichzeitig eine Diät machen und Ihren Alkoholkonsum reduzieren wollen, dann erreichen Sie mit aller Wahrscheinlichkeit keines Ihrer drei Ziele, weil Sie Ihre Willenskraft hoffnungslos überstrapazieren.“ (S. 49)
Eine der schlimmsten Gewohnheiten, die die Willenskraft erlahmen lassen, ist die Aufschieberitis. In Umfragen in den USA bekennt sich mehr als die Hälfte der Befragten zum chronischen Aufschieben, und Arbeitnehmer schätzen, dass sie ein Viertel ihrer Arbeitszeit damit vergeuden. (S. 276) Das führt zu unnötigem Stress, denn: „Nicht erledigte Aufgaben und nicht erreichte Ziele kommen uns immer wieder in den Kopf. Wenn eine Aufgabe jedoch erledigt und abgeschlossen ist, endet der Strom der Ermahnungen.“ (S. 97) Hilfreich ist es, alle Aufgaben, die nicht innerhalb von zwei Minuten rasch erledigt werden können, auf eine Liste zu schreiben. (S. 101) Alleine diese Handlung entlastet schon.
Die aus meiner Sicht wichtigste Beobachtung aus den wissenschaftlichen Experimenten, über die die Autoren berichten: „Menschen mit großer Selbstdisziplin zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass ihr Verhalten weitgehend automatisiert war … Zur Durchsetzung gesunder Verhaltensweisen ist zwar Willenskraft erforderlich – daher sind Menschen mit starkem Willen auch eher dazu in der Lage –, aber sobald sich die Gewohnheiten eingeschliffen haben, erfordern sie keine Anstrengung mehr.“ (S. 183) „Bei den automatisierten Verhaltensweisen handelte es sich um Gewohnheiten, während die bewusst kontrollierten Verhaltensweisen in der Regel einmalige Handlungen darstellten. Die Selbstdisziplin ist offenbar dann am effektivsten, wenn wir uns gute Gewohnheiten zu- und schlechte ablegen.“ (S. 183)
Erfolgreiche Menschen verlassen sich vor allem auf gute Gewohnheiten. Gute Schüler, so die Autoren, pauken nicht vor einer Prüfung die ganze Nacht hindurch, sondern lernen das ganze Jahr über regelmäßig. Und Arbeitnehmer und Selbständige, die über einen langen Zeitraum hinweg konstant arbeiten, sind langfristig erfolgreich. (S. 184)
Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass zur Selbstdisziplin sehr klare, eindeutige und unmissverständliche Regeln notwendig sind. Diese Regeln müssen so strikt formuliert sein, dass man sofort merkt, wenn man gegen sie verstößt. Der Vorsatz, „in Maßen“ zu trinken oder zu rauchen ist beispielsweise keine klare Regel, denn es gibt keinen eindeutigen Punkt, an dem die Mäßigung endet und der Exzess beginnt. (S. 214)
Also: Klare, eindeutige Regeln sind von großer Bedeutung. Selbstdisziplin ist eher am Anfang einer Tätigkeit wichtig; später, wenn sie zur Gewohnheit geworden ist, brauchen wir weniger davon. Und: Selbstdisziplin kann trainiert werden wie ein Muskel. Das sind einige der wichtigen Erkenntnisse aus diesem bemerkenswerten und übrigens überaus unterhaltsam und humorvoll geschriebenen Buch. R.Z.