Dies ist eines der besten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Es ist ein kritisches Buch über den Zustand Europas und soll vor allem den Amerikanern eine Warnung geben, nicht weiter den Weg in Richtung des europäischen Wohlfahrtsstaates zu gehen. Die Unterschiede zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, aber auch Unterschiede in Europa selbst, werden deutlich bei den Antworten auf eine im April 2011 durchgeführte Umfrage. Das internationale Meinungsforschungsinstitut GlobeScan untersuchte die Einstellungen in den Vereinigten Staaten und in Europa zur Marktwirtschaft und legte den Befragten folgendes Statement vor:
„The free market system and free market economy is the best system on which to base the future of the world.“ Diesem Statement stimmten die Menschen in den nachfolgenden Ländern in sehr unterschiedlichem Ausmaß ganz und gar zu (S. 266 f.):
- Großbritannien 19%
- Spanien 24%
- Italien 21%
- Frankreich 6%
- Deutschland 30%
Fasst man die Zahlen für „agreed“ und „somewhat agreed“ zusammen, dann sind die Ergebnisse etwas positiver, nämlich 68% in Deutschland, 55% in Großbritannien und 52% in Spanien. In Frankreich lehnten dagegen 57% der Befragten diese Meinung entschieden ab.
Interessant ist der Unterschied zu den USA: Hier stimmten 59% der Befragten der positiven Aussage zur freien Marktwirtschaft zu, also doppelt so viele wie in Deutschland und zehnmal so viele wie in Frankreich.
Dies belegt, so der Autor, beispielhaft die unterschiedliche „ökonomische Kultur“ in Europa und in den USA. Aber, und dies ist seine Warnung: Die Einstellungen in den USA entwickeln sich, befördert durch die Finanzkrise, in Richtung der europäischen Haltungen. Denn während 2002 bei der gleichen Umfrage noch 80 Prozent der Amerikaner der positiven Aussage über die Marktwirtschaft zustimmten, waren es acht Jahre später nur noch 59 Prozent. Bei gering verdienenden Amerikanern (Einkommen bis 20.000 Dollar im Jahr) ging die Zustimmungsquote von 79 Prozent im Jahre 2009 auf 45 Prozent im Jahr 2010 zurück.
Umfragen in den USA belegen, dass die intellektuellen Eliten in den Universitäten, in den Medien und in der Rechtsprechung eine weit weniger positive Einstellung zur Marktwirtschaft haben als die Amerikaner insgesamt. Beunruhigend ist auch, dass die jungen Amerikaner ein distanzierteres Verhältnis zur Marktwirtschaft zeigen als die älteren (S. 11). Dennoch, so eine der Thesen des Buches, sind markwirtschaftliche Werte und der Glaube an Wettbewerb, Vertragsfreiheit und Eigentum, in den Vereinigten Staaten insgesamt noch sehr viel tiefer verankert als in Europa, wo der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ den politischen Diskurs dominiert.
Für Europa hat es der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Klaus wie folgt auf den Punkt gebracht: „It seems that Europeans are not interested in capitalism and free markets and do not understand that their current behavior undermines the very institutions that made their past success possible. They are eager to defend their non-economic freedoms – the easieness, looseness, laxity and permissiveness of modern or post-modern society – but when it comes to their economic freedoms, they are quite indifferent.“ (S. 268)
Der Autor warnt vor einer Entwicklung in den USA, die zu einer ökonomischen Europäisierung führt – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Dies sei vor allem eine Frage der politischen und ökonomischen Kultur, insbesondere der Einstellungen der Menschen zur Marktwirtschaft. Amerika stehe vor einem Scheideweg:
„Do Americans want to embrace modern Europe economic culture? Do they want to live in a set of economic expectations and arrangements that routinely prioritizes economic security over economic liberty; in which the state annually consumes close to 50 percent of gross domestic product; where the ultimate economic resource (i.e. human beings) as aging and declining in numbers; where the extensive regulation is the norm; and perhaps above all, where economic incentives lie not in hard work, economic creativity, and a willingness to take risks, but rather in access to political power?
Or do Americans want to embrace the opposite? Do they want to live in an economy in which economic entrepreneurship is rewarded; where the government’s economic responsibilities are confined to a number of important but limited functions; and where the stress is upon economic liberty, rather than remorseless efforts to equalize economic outcomes though state action?“ (S. xviii f.)
Wer nicht die begründete Furcht der Amerikaner vor einer Europäisierung versteht, der kann die aktuellen harten Debatten in den USA nicht verstehen. In den deutschen Medien werden die Republikaner und insbesondere die Tea Party-Fraktion als Fanatiker mit absurden Positionen dargestellt, die aus völlig unverständlichen Gründen die Gesundheitsreform von Obama ablehnen. Wer dieses Buch liest, wird eher den Widerstand gegen „Obamacare“ verstehen, denn dahinter geht es um mehr: Es ist ein Kulturkampf in den USA, bei dem es um eine Richtungsentscheidung geht. Seit 2009, so der Autor, spiele der Begriff der „Europäisierung“ eine zunehmend wichtige Rolle in der Debatte in den USA: „It is shorthand for describing what people think is happening to America’s economy, from Bush administration’s heavy spending and fiscal stimulus programs to the acceleration of deficit spending and a general expansion of government economic intervention during President Obama’s. ‚We’re becoming,‘ the sentiment runs, ‚like Europe.'“ (S. 7)
Was wäre so schlimm daran, werden die Europäer fragen, die von der Überlegenheit ihrer Wertordnung überzeugt sind. Der Autor zeigt in einer ausführlichen und kenntnisreichen historischen und aktuellen Analyse die Probleme, mit denen Europa konfrontiert ist. So ist die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Staaten vor allem ein Ergebnis der hohen Regulierung des Arbeitsmarktes und des Einflusses der Gewerkschaften in diesen Ländern, die die Besitzer von Arbeitsplätzen vertreten – zu Lasten der jungen Menschen, die nach Arbeit suchen (S. 144 ff.). Inzwischen werden 58 Prozent der Sozialausgaben auf der ganzen Welt in Europa ausgegeben (S. 159), was nur durch eine dramatische Verschuldung möglich ist. Die Verschuldung ist zugleich natürlich auch ein Problem der Vereinigten Staaten, was durch hohe Militärausgaben, aber auch durch zunehmende Ausgaben für den Wohlfahrtsstaat in den USA bedingt ist. Bei letzter Aussage werden viele Deutsche zweifelnd den Kopf schütteln, aber der Autor zeigt eindrucksvoll, wie dramatisch die Sozialausgaben in den USA in den letzten Jahrzehnten gestiegen sind – was viele Europäer gar nicht wahrnehmen, weil sie die USA immer noch als Land des ungebremsten Kapitalismus sehen, was sie jedoch längst nicht mehr sind. Im Jahr 2010 gingen in den USA bereits 70,5 Prozent der Staatsausgaben in „welfare programs“ – 1962 waren das erst 28,3 Prozent und 1990 erst 48,5 Prozent. Mehr als 67 Millionen Amerikaner seien heute Nutznießer staatlicher Wohlfahrtsleistungen (S. 185). Im Jahr 2009 zahlten andererseits 49,5 Prozent der Amerikaner keine Steuern mehr, während das 1984 erst 14,8 Prozent waren (S. 186). (Ich empfehle als Ergänzung zu dem vorliegenden Buch jedem das Buch von William Voegeli, „Amerikas Abschied vom Kapitalismus“, das im gleichen Verlag in den USA erschienen ist. Eine Besprechung dieses Buches finden Sie hier auf empfohlene-wirtschaftsbuecher.de)
Die Verschuldung in Europa ist jedoch noch ein wesentlich größeres Problem als in den USA, und zwar aus zwei Gründen: Erstens trifft die Verschuldung in Europa mit einem gigantischen demografischen Problem zusammen, das der Autor ausführlich beschreibt. Sowohl die Geburtenraten als auch die Zuwanderung qualifizierter Zuwanderer sind in Europa sehr viel niedriger als in den USA, was zu einer dramatischen Verschärfung des Schuldenproblems führt. Das Wachstum in Europa ist, insbesondere als Folge des Staatsinterventionismus, deutlich geringer als in den Vereinigten Staaten. Dennoch, so warnt der Autor, befinden sich die USA auch in dieser Hinsicht auf einem verhängnisvollen Weg der Europäisierung.
Das vorliegende Buch ist keine polemische Kampfschrift, sondern ein wissenschaftliches Werk, dessen Schwerpunkt in einer überaus kenntnisreichen historischen Analyse liegt. Im Mittelpunkt steht das Bemühen, die „ökonomische Kultur“ Europas zu verstehen, und zwar vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung, die bis zurück ins Mittelalter reicht. In Europa gab es stets zwei sich bekämpfende Richtungen, nämlich die Marktorientierung und der egalitäre Etatismus, so eine der Thesen des Autors. Die gegenwärtige Entwicklung geht jedoch überwiegend in die falsche Richtung und insbesondere die EU-Integration „suggest that the priorities of Market Europe are being increasingly subordinated to those of Social Europe“ (S. 114). R.Z.