Dies ist ein bemerkenswert gut geschriebenes Buch. Der Autor vertritt eine dezidierte These und es gelingt ihm, den Leser in seinen Bann zu ziehen. Seine Argumente sind scheinbar zwingend. Ich mag Bücher mit einer starken, einseitigen These, auch wenn diese – wie im Fall des vorliegenden Buches – im Gegensatz zu meinen eigenen Meinungen steht. Denn eine solche These zwingt einen dazu, die eigene Sichtweise auf die Probe zu stellen und die eigenen Argumente zu schärfen.
Gladwells These lautet, kurz zusammengefasst: Besonders erfolgreiche Menschen sind nicht etwa deshalb besonders erfolgreich, weil diese über Persönlichkeitsmerkmale verfügen und Strategien verfolgt haben, die denen ihrer Mitmenschen überlegen sind, sondern weil sie verdammt viel Glück im Leben hatten. Der Autor zeigt am Beispiel von zwei hoch intelligenten Personen – dem weltbekannten Physiker Oppenheimer und einem weitgehend unbekannten und erfolglosen Genie namens Chris Langan (IQ 195), dass Intelligenz allein keinen Erfolg garantiert. Forschungen belegten, so Gladwell, dass die Intelligenz tatsächlich ein Faktor für Erfolg oder Misserfolg sei, aber dies gelte nur bis zu einem IQ von 130. Wer einen höheren IQ habe, der habe damit keine höheren Lebenschancen als ein anderer und könne beispielsweise ebenso gut einen Nobelpreis gewinnen. Da ich selbst einen IQ von 130 habe, hat mich das genauso beruhigt wie sicher viele andere Leser. Aber dass ein Genie-IQ nicht entscheidend für den Erfolg im Leben ist, wusste ich auch schon, bevor ich das Buch gelesen habe. Wichtiger, so der Autor, sei „praktische Intelligenz“, beispielsweise „knowing what to say to whom, knowing when to say it, and knowing how to say it for maximum effect“ (S. 101). Diese Fähigkeiten seien jedoch nicht angeboren, sondern erlernt – und Kinder aus reichen Familien lernten das eher als Kinder aus armen Familien. Nun, auch dies ist nicht wirklich eine Überraschung. Aber kann man daraus ableiten, dass Erfolg ein Ergebnis des Zufalls ist?
Was ist mit Personen wie Coco Chanel, eine der reichsten und erfolgreichsten Personen des vergangenen Jahrhunderts, die als Waisenkind geboren wurde? Was ist mit Howard Schultz, der in einem sozialen Brennviertel (ebenfalls als Waisenkind) aufwuchs und sich vom Xerox-Vertreter zu einem der reichsten Menschen Amerikas hocharbeitete, weil er aus der Firma Starbucks mit fünf Kaffeeläden einen weltweiten Konzern mit 17.000 Kaffeeläden zu formen wusste? Was ist mit Arnold Schwarzenegger, der aus sehr einfachen Verhältnissen kam und der in verschiedenen Lebensbereichen (Sport, Filmbusiness, Politik, Immobilien) einen überragenden Erfolg hatte? Haben ihm seine Eltern (der Vater war Polizist), das alles beigebracht? Man könnte bei Schwarzenegger vielleicht argumentieren, er habe Glück mit seinen Genen gehabt. Aber es gibt weitaus muskulösere Bodybuilder, die weder Millionen im Filmgeschäft verdient haben noch zwei Mal Gouverneur von Kalifornien wurden. Und was ist mit „Serial entrepreneurs“, die nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder sehr erfolgreiche Unternehmen gründeten? Hatten die jedes Mal nur Glück?
Der Autor führt das Beispiel von Bill Gates an. Gladwell führt zahlreiche glückliche Zufälle an, die Gates halfen. Das alles ist unbestreitbar. Es erklärt, dass Gates ein besserer Programmierer war als die meisten anderen jungen Leute zu seiner Zeit. Aber, und das vergisst der Autor zu erwähnen: Gates wurde nicht der reichste Mann der Welt, weil er der beste Programmierer war. Keineswegs. Gates hatte sogar entscheidende Ideen von anderen kopiert oder billig gekauft. Seinen Erfolg verdankte er einem überragenden Geschäftssinn, nicht überragenden Fähigkeiten als Programmierer. Gleiches trifft übrigens auch für Steve Jobs und für viele andere Milliardäre des Internet-Zeitalters zu.
Gladwell zitiert Gates, der selbst von seinem „Glück“ spricht. Ist das ein Beleg für die These des Autors? Viele sehr erfolgreiche Menschen nennen „Glück“, wenn man sie fragt, warum sie erfolgreich waren. Das ist, psychologisch gesehen, vor allem eine Neidabwehrstrategie. Denn den Erfolgreichen und Reichen wird ihr Erfolg geneidet. Die Erklärung, man habe eben einfach mehr Glück gehabt, wirkt nun einmal weitaus sympathischer als etwa die: „Ich war eben intelligenter, fleißiger und cleverer als ihr“.
Natürlich spielen gute Gelegenheiten im Leben eine Rolle. Aber entscheidend ist doch, dass jemand diese Gelegenheiten erkennt und etwas aus ihnen macht. Es gibt Millionen von Menschen, die ebenfalls tolle Gelegenheiten gehabt hätten, aber die diese entweder nicht erkannten oder nicht verstanden, wie diese zu nutzen sind. Umgekehrt: Wer weiß, was aus einem Bill Gates geworden wäre, wenn er nicht Microsoft gegründet und damit Milliardär geworden wäre? Vermutlich wäre er nicht der reichste Mensch der Welt geworden, aber vermutlich wäre er – egal auf welchem Gebiet – erfolgreicher gewesen, als 99,99 Prozent seiner Mitmenschen. Beweisen lässt sich dies natürlich nicht. Beweisen lässt sich aber auch nicht, dass Gates nur deshalb erfolgreich war, weil ihm viele glückliche Gelegenheiten zugute kamen. Wir wissen nie, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn sie anders verlaufen wäre.
Schwach ist das Argument des Autors, dass 20 Prozent der reichsten Menschen der Geschichte in einem Jahrhundert und in einem Land (im 20. Jahrhundert in den USA) ihr Vermögen gemacht hätten. Dies zeige, dass äußere Umstände entscheidend seien (S. 56 ff.). Nun, vor 500 Jahren gab es nicht nur weniger Milliardäre, es gab auch weniger Millionäre und es gab auch keine wohlhabende Mittelschicht. Dass es in einem Land wie den USA einfacher ist, reich zu werden als beispielsweise in Afrika, ist auch keine überraschende Erkenntnis. Aber die Frage ist doch, warum von den 320 Millionen Einwohnern der USA vier Prozent Millionäre werden und 96 Prozent nicht. Hatten die vier Prozent einfach verdammt viel Glück?
Der Autor erzählt sehr anschaulich viele Geschichten, die seine These zu belegen scheinen. Ebenso gut könnte man Geschichten von Menschen erzählen, die wirklich ein ungewöhnliches Glück hatten, beispielsweise von Lottogewinnern. Die meisten Lotto-Hauptgewinner haben schon wenige Jahre, nachdem sie gewonnen haben, weniger als zuvor. Googeln Sie mal „Lottogewinn verzockt“ und Sie werden hunderte Beispiele finden. Jedes dieser Beispiele belegt, dass Glück eben nicht der Ausschlag gebende Faktor für Erfolg ist. Umgekehrt gibt es viele finanziell sehr erfolgreiche Menschen, die schon mehrfach pleite waren und immer wieder aufs Neue ein Riesen-Vermögen angehäuft haben. Hatten die immer wieder aufs Neue Glück? Oder verfügten diese über Persönlichkeitsmerkmale und Strategien, über die andere nicht verfügten?
Niemand wird bestreiten, dass auch äußere Bedingungen und glückliche Gelegenheiten ein Faktor sind, der Erfolg begünstigt. Aber kein Mensch hat im Leben stets nur Glück oder stets nur Unglück. Meist gleichen sich glückliche und unglückliche Zufälle über Jahrzehnte wieder aus. Auch einem Bill Gates oder den Beatles, um nur zwei Beispiele aus dem Buch zu nennen, widerfuhr im Leben nicht nur Glück, sondern sie hatten auch mit erheblichen Problemen und widrigen Umständen zu kämpfen. Dies trifft für alle sehr erfolgreichen Menschen zu. Ihr Erfolg liegt ja gerade darin begründet, dass sie auf Probleme und Schwierigkeiten anders (besser) reagierten als ihre weniger erfolgreichen Mitmenschen.
Dass das Buch ein Riesenerfolg weltweit ist, liegt nicht nur an dem hervorragenden Schreibstil des Autors, sondern auch daran, dass diese These wie Balsam auf der Seele weniger erfolgreicher Menschen wirkt: Nein, sie sind nicht weniger klug, nicht weniger fleißig, ihnen fehlen auch nicht bestimmte Persönlichkeitsmerkmale – sie hatten halt einfach nicht so viel Glück wie beispielsweise Bill Gates oder wie die „Beatles“. R. Z.