Hitler ging nach der Machtergreifung zuerst gegen die Kommunisten vor. Er versprach, Deutschland vom „Marxismus zu befreien“ und er griff 1941 die kommunistische Sowjetunion an. Für Historiker wie Ernst Nolte war Hitler vor allem ein Antikommunist – und linke Faschismustheoretiker sehen in ihm sogar einen „Agenten des Finanzkapitals“. Bei Brendan Peter Simms, Professor am Centre of International Studies der Universität Cambridge, ist alles anders: Hitler hasste nicht vor allem den Kommunismus, sondern den Kapitalismus. „Die anglo-amerikanische kapitalistische Weltordnung, gegen die Hitler revoltierte, bestimmte seine gesamte politische Laufbahn.“ (S.841) Und Hitlers Judenhass, so fügt er hinzu, wurzelte „weniger in seinem Hass gegen die radikale Linke als vielmehr in seiner Feindschaft gegenüber der globalen Hochfinanz“ (S.841).
Die Kommunisten spielten in Hitlers Gedankenwelt „nicht mehr als eine Nebenrolle“ (S.277). Sein ganzes Denken sei auf Großbritannien und vor allem die USA gerichtet gewesen. „Er war zum Gegner Großbritanniens und der Vereinigten Staaten geworden, bevor er zum Judenfeind wurde. Tatsächlich wurde er zum großen Teil sogar wegen seines Hasses auf die kapitalistischen anglo-amerikanischen Mächten zum Antisemiten“ (S.57).
Die USA habe er einerseits wegen ihrer großen ökonomischen Ressourcen und ihrer Modernität, aber auch wegen der größeren sozialen Mobilität und besseren Aufstiegschancen für Arbeiter als Gegner bewundert, andererseits habe er sie als einzigen ernstzunehmenden Rivalen im globalen Maßstab gefürchtet und als Vertreter des Kapitalismus gehasst. Vor allem habe er die USA auch wegen ihrer positiven Demographie ebenso gefürchtet wie bewundert, denn nach Hitler sind Auswanderer besonders mutige, tapfere und entschlossene Menschen. Nordamerika wurde nach Hitlers Meinung von den rassisch gesündesten Nachfahren britischer Auswanderer und der besten Elemente Kontinentaleuropas bewohnt (S.157). Im Bolschewismus habe er keine eigenständige Bedrohung gesehen, sondern ein Instrument des „internationalen jüdischen Kapitalismus zur Untergrabung von Volkswirtschaften, um sie für die Übernahme durch internationales Finanzkapital – jüdisches und nichtjüdisches – reif zu machen.“ (S.87).
Dass er die Sowjetunion angegriffen habe, war aus der Sicht des Autors vor allem ökonomisch motiviert, weil er „neuen Lebensraum“ erobern wollte, also Rohstoffquellen und Absatzmärkte. Sein Angriff sei nicht primär ideologisch motiviert gewesen – weder habe der Hass gegen Juden noch der gegen Kommunisten die Ausschlag gebende Rolle gespielt. Auch schwebte Hitler nicht, wie früher oft in der Forschung behauptet, eine reaktionäre Agrarutopie vor. „Er plante kein traditionelles ländliches Idyll, sondern einen modernen deutschen Osten nach amerikanischem Vorbild.“ (S. 671)
Simms sieht auch eine enge Verbindung von Hitlers Rassismus mit seiner Gegnerschaft gegen den Kapitalismus. „Kapitalismus und Rassismus waren nach Hitlers Verständnis nicht kompatibel.“ (S.774) Und: „Für die Schaffung der rassischen Geschlossenheit in Deutschland am wichtigsten waren in Hitlers Augen jedoch die Überwindung des Kapitalismus und der ‚Aufbau einer neuen klassenlosen Ordnung’.“ (S.775).
Hat Simms mit seinen provokanten Thesen Recht? In vieler Hinsicht ja, aber mancher Hinsicht auch nicht. Dass Hitler Antikapitalist war, stimmt. Die Bedeutung des Antikapitalismus in Hitlers Denken hätte der Autor noch besser belegen können, wenn er sich ausführlicher mit Hitlers Wirtschaftsdenken befasst hätte, was er leider nicht tut. Hitler hatte ein in sich konsistentes ökonomisches und sozialpolitisches Gedankensystem entwickelt, wie ich in meinem Buch über „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs“ nachgewiesen habe.
Besonders nach dem Angriff auf die Sowjetunion wurde Hitler immer stärker zum Bewunderer der Planwirtschaft und er strebte für die Zeit nach dem Krieg in der Tat eine grundlegende Revolutionierung der Wirtschaft an. Sozialistische und antikapitalistische Elemente spielten in seinem Denken eine viel größere Rolle, als man gemeinhin annimmt.
Recht hat Simms – und auch dies hatte ich in meiner Studie sehr eingehend belegt – dass Hitler die USA als modernes Industrieland bewunderte und keineswegs Anhänger einer anti-modernen Agrarutopie war, wie früher oft behauptet. Richtig ist auch, dass nicht ideologische Gründe hinter Hitlers Idee von der „Eroberung von neuem Lebensraum im Osten“ standen, sondern ökonomische Überlegungen. Simms hätte diese These sogar noch sehr viel besser belegen können, wenn er ausführlicher Hitlers Theorie von der „Schrumpfung der Märkte“ und seine Kritik an der Exportorientierung der deutschen Wirtschaft dargestellt hätte.
Simms hat jedoch nicht Recht, wenn er so tut, als hätten die Kommunisten keine wichtige Rolle in Hitlers Denken gespielt und als habe er die Sowjetunion nur deshalb angegriffen, weil er sie als „schwach“ (S.167) gesehen habe. Im Gegenteil: Hitler begriff seine nationalsozialistische Bewegung als alternative, revolutionäre Bewegung, als Konkurrenz zu den Kommunisten. Die Kommunisten waren für ihn die einzigen ernstzunehmenden Gegner. Denn sie waren aus Hitlers Sicht zu allem entschlossenen „Fanatiker“ – für ihn bedeutete dieses Wort das größte Lob. Das Bürgertum dagegen sah er als feige und schwach an und den liberalen Kapitalismus als ein verfaultes, dekadentes und zum Untergang verdammtes System. Hitler bewunderte zunehmend Stalin und an seine Propagandaparolen vom „jüdischen Bolschewismus“ glaubte er selbst nicht mehr.
Jene Merkmale der kommunistischen Bewegung, die vom demokratisch-liberalen Standpunkt besonders kritikwürdig sind, nötigten Hitler höchste Bewunderung ab: der totalitäre Charakter ihrer Ideologie, der unumschränkte Machtwille und die klar formulierte Zielsetzung, alle politischen Gegner „fanatisch“ zu bekämpfen und zu „vernichten“. Aus Sicht Hitlers waren die Kommunisten und die Sowjetunion also sehr viel gefährlicher, als man nach der Lektüre von Simms Buch glauben sollte. Das Verdienst seines Buches ist es jedoch besonders, dass er zeigt, welch wichtige Rolle die Demografie in Hitlers Denken spielte und welch große Bedeutung er der Zuwanderung als Element der Stärke Amerikas beimaß. Das hat vor ihm noch niemand so klar herausgearbeitet. Recht hat er auch, wenn er Hitlers Antikapitalismus betont und darauf hinweist, dass sein Plan zur „Eroberung von neuem Lebensraum im Osten“ nicht rassenideologisch, sondern ökonomisch motiviert war.