Der britische Autor Adam Higginbotham hat in seinem über 600 Seiten umfassenden Werk gezeigt, dass diese größte Atomkatastrophe aller Zeiten ein direktes Ergebnis des sowjetischen Wirtschaftssystems war.
1992 konstatierten Murray Feshbach und Alfred Friendly Jr. in dem Buch „Ecocide in the USSR“: „Keine andere industrielle Zivilisation vergiftete so systematisch und so lange ihr Land, ihre Luft und ihre Menschen.“ Ein bekanntes Beispiel für den katastrophalen Stand des Umweltschutzes ist die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, die sich am 26. April 1986 im Reaktor-Block 4 des W.I. Lenin-Atomkraftwerkes ereignete. Den eigentlichen Namen, das dieses Kernkraftwerk stolz trug (Чернобыльская АЭС им. В. И. Ленина (Tschernobylskaja AES im. W. I. Lenina), nämlich den Namen des kommunistischen Säulenheiligen und Staatsgründers Lenin, kennen die meisten Menschen nicht, denn nach dem Unfall stand der Name des Kraftwerkes für die angebliche generelle Gefährlichkeit der Kernenergie statt für die Umweltgefahren im Sozialismus.
Schon beim Bau des Kernkraftwerkes wurden die Systemmängel der sozialistischen Planwirtschaft deutlich. „Maßgebliche mechanische Teile und Baumaterialien tauchten oft zu spät oder überhaupt nicht auf, und was ankam, war oft fehlerhaft. Stahl und Zirkonium – wesentlich für die kilometerlangen Rohrleitungen und vielen hundert Brennelemente, die im Herzen des riesigen Reaktors entstehen sollten – waren Mangelware; Rohrleitungen und Stahlbeton, für den nuklearen Gebrauch bestimmt, erwiesen sich oft als dermaßen schäbig, dass man sie wegwerfen musste.“
Planerfüllung geht vor Sicherheit
Das Dach der Turbinenhalle des Kraftwerkes wurde mit leicht entzündlichem Bitumen gedeckt, obwohl dies der Vorschrift widersprach. Grund: Das schwerer entflammbare Material, das eigentlich verwendet werden sollte, war in der UdSSR nicht verfügbar. Der Beton war fehlerhaft und die Bauarbeiter hatten keine Elektrofahrzeuge – ein Team aus KGB-Agenten meldete eine anhaltende Serie von Baufehlern. Als der Block 4 des Kraftwerkes kurz vor der Fertigstellung stand, blieb ein zeitaufwändiger Sicherheitstest mit den Turbinen aus, damit die von den Planungsbehörden gesetzte Frist zur Fertigstellung (31.12.1983) eingehalten werden konnte.
Untersuchungen in der Sowjetunion nach dem Unfall bestätigten, dass der Reaktortyp RBMK nicht den Sicherheitsstandards entsprach und außerhalb der UdSSR schon vor dem Unfall keine Betriebsgenehmigung erhalten hätte. „Der Unfall war unausweichlich… Wäre er nicht hier und jetzt passiert, dann eben anderswo“, räumte der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR, Nikolai Ryschkow in einer internen Besprechung ein.
Die Behörden der Sowjetunion versuchten zunächst, das Ausmaß des Unfalls zu vertuschen, so wie sie eine lange Kette vorangegangener Unfälle in Kernkraftwerken vertuscht hatten. Obwohl die Sowjetunion als eines der zwölf Gründungsmitglieder der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) seit 1957 verpflichtet war, jeden Atomunfall zu melden, wurde kein einziger der vielen gefährlichen Unfälle, die sich in den folgenden Jahrzehnten in sowjetischen Kernkraftwerken ereigneten, der IAEO gemeldet. „Fast 30 Jahre lang ließ man sowohl die Bevölkerung der Sowjetunion als auch die Weltöffentlichkeit in dem Glauben, die UdSSR betreibe die sichersten Atommeiler der ganzen Welt.“ Dagegen wurde der im Vergleich harmlose Unfall im amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Islands bei Harrisburg am 28. März 1979 von der sowjetischen Propaganda ausgeschlachtet und als Beispiel dafür gewertet, wie unsicher Kernkraftwerke im Kapitalismus seien.
Nach dem Unfall im W.I. Lenin Atomkraftwerk von Tschernobyl blieben die Kommunisten bei der Linie der Vertuschung: Angeblich war ausschließlich menschliches Versagen für die Katastrophe verantwortlich. In einem großen Schauprozess wurden einige Mitarbeiter des Kraftwerkes abgeurteilt. Als einer der Angeklagten, der stellvertretende Chefingenieur des W.I. Lenin-Atomkraftwerkes, Anatoli Djatlow, in dem Prozess 24 Fragen zu den technischen Maßgaben des Reaktors an die Sachverständigen richtete und wissen wollte, ob dieser denn den Vorschriften für nukleare Sicherheit entsprochen hätte, erklärte der Richter diese Fragen – ohne weitere Begründung – schlicht für unzulässig.
Waleri Legassow, der stellvertretende Direktor des sowjetischen Instituts für Atomenergie, kam schließlich zu der Einsicht, es sei das „grundlegende Scheitern des sowjetischen Gesellschaftsexperimentes – und nicht bloß die Fahrlässigkeit einer Handvoll Operatoren – das die Schuld an der Katastrophe trage.
In einem Interview mit der Literaturzeitschrift Nowy Mir warnte er, dass sich die Katastrophe in jeder der RMBK-Atomkraftanlagen der UdSSR jederzeit wiederholen könne.
„Dies zu sagen ist meine Pflicht“
Der von Krankheit und Verzweiflung über das Geschehene gezeichnete Experte, der sich so intensiv wie wohl niemand anders mit dem Unfallhergang und den Ursachen beschäftigt hatte, sprach als Vermächtnis eine Botschaft auf Band, die nach seinem Tod in der „Prawda“ veröffentlicht wurde (das war damals möglich, weil es die Hochphase der Anfang 1986 von Gorbatschow eingeleiteten Perestroika war). In dem Artikel von Legassow vom September 1988 hieß es: „Nachdem ich das Atomkraftwerk Tschernobyl besucht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass der Unfall der unausweichliche Schlussakt des in Jahrzehnten entwickelten sowjetischen Wirtschaftssystems war. Dies zu sagen, ist meine Pflicht.“
Die Ursachen waren so tiefgreifend in der Struktur des planwirtschaftlichen Wirtschaftssystems begründet, dass das intensive Bemühen der sowjetischen Politiker und der Wissenschaftler nach der Katastrophe etwas zu ändern, nicht erfolgreich war. In einem internen Bericht an das Zentralkomitee der KPdSU, der ein Jahr nach der Katastrophe erstellt wurde, heißt es, dass es in den zwölf Monaten danach zu 320 Störfällen in sowjetischen Kernkraftwerken gekommen war, von denen 160 zur Notabschaltung des Reaktors führten, die jedoch – so wie die zahlreichen Unfälle davor – verschwiegen wurden.