Es gehört zu den gängigen Mustern der Kapitalismuskritik, das System der Marktwirtschaft als eine Religion zu erklären, die im säkularen Zeitalter die kultischen Traditionen des Christentums übernommen habe, um ihre wahre Natur zu verschleiern. Der Kapitalismus diene „der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“, heißt es etwa bei Walter Benjamin. Der Historiker, Soziologe, Journalist und PR-Unternehmer Rainer Zitelmann dreht den Spieß nun kurzerhand um: Der Antikapitalismus sei als „politische Religion“ zu verstehen, die den erklärten Gegner zu einer Inkarnation des Bösen aufblase, das für alle Probleme dieser Welt verantwortlich sei, inklusive dem Scheitern sämtlicher sozialistischer Gegenmodelle.
Zitelmann ist ein Faktenfanatiker. Er ist angetreten, um den noch immer zahlreichen Kapitalismuskritikern auf der Grundlage von Zahlen und historischen Gegebenheiten nachzuweisen, dass das System einer freiheitlichen Marktwirtschaft überall zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensverhältnisse beigetragen habe. Sein Appell lautet deshalb: „Lasst uns weniger Staat und mehr Kapitalismus wagen!“
Das Summieren unbestreitbarer Verdienste legt den Gedanken nahe, wir lebten bereits in der besten aller möglichen Welten. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Probleme, die jede Form der Vergesellschaftung unweigerlich mit sich bringt, wäre dies sicher eine allzu optimistische Schlussfolgerung. Zitelmann tut gut daran, seiner Leistungsschau einen genauen Blick auf die Motive antikapitalistischer Ressentiments folgen zu lassen. Für sein jüngstes Buch hat er in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demoskopie Allensbach und dem britischen Marktforschungsunternehmen Ipsos MORI eine Umfrage durchgeführt, deren Ergebnis die Kluft zwischen den Fakten und den einschlägigen Meinungen zum Kapitalismus in insgesamt 14 Ländern offenbart.
Erstaunlich ist weniger, dass der Kapitalismus im linken politischen Spektrum den geringsten und im gemäßigt rechten den größten Zuspruch erfährt, während rechts außen ein Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und Antikapitalismus zu beobachten sei. Zu denken gibt vielmehr, dass die Befragten weitaus positiver reagieren, wenn der Begriff „Kapitalismus“ inhaltlich umschrieben wird, etwa durch „wirtschaftliche Freiheit“. In Deutschland wächst die Zustimmung in diesem Fall um 47 Prozent!
„Kapitalismus“ ist offenbar ein Reizwort mit der Wirkung eines roten Tuchs. Dies zeige, so Zitelmann, „dass der Antikapitalismus offenbar nicht im Bereich der Vernunft bzw. der rationalen Erkenntnis begründet ist, sondern dass es sich vor allem um eine gefühlsmäßig begründete Ablehnung handelt“, die insbesondere in den intellektuellen Eliten traditionell weit verbreitet sei. Die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus erinnere häufiger an einen „Schauprozess“ als an ein faires Verfahren.
Im vergangenen Jahr hat Kristian Niemitz die anhaltende Attraktivität der gescheiterten sozialistischen Systemalternative unter anderem darauf zurückgeführt, dass der Kapitalismus nie in der Lage gewesen sei, die Herzen der Menschen zu erwärmen. Zitelmann knüpft an solche Überlegungen an, indem er auf die Strahl- und Verführungskraft linker Theorien verweist, die in der Praxis immer nur autokratischen, totalitären Regimen Vorschub geleistet haben. Seine materialreiche Abhandlung führt in wünschenswerter Deutlichkeit vor Augen, dass es bei der Streitfrage „pro oder contra Kapitalismus?“ letztlich um ein Votum zugunsten der Selbst- oder der Fremdbestimmtheit des Menschen geht.